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Indien wurde im Jahr 1947 unabhängig. Danach dauerte es aber noch fast drei Jahre, bis die neugewählt konstituierende Versammlung eine Verfassung redigierte und verabschiedete, die die Vertreter aller indischen Regionen zufrieden stimmte.
Am 26. Januar 1950 wurde die Verfassung Indiens (Bhāratīya Saṃvidhāna) ratifiziert. Sie war auf Englisch und Hindi verfasst worden und jedes Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung musste beide Versionen unterzeichnen. In der Verfassung wurden allerdings noch 21 weitere Sprachen als potenzielle offizielle Sprachen angegeben, aus denen (und natürlich aus Hindi und Englisch) sich die einzelnen Bundesstaaten und Unionsterritorien selbst diejenigen aussuchen konnten, die am besten den Bedürfnissen der Bevölkerung auf ihrem Gebiet entsprechen (eine oder mehrere Sprachen). Der Teil der Verfassung, in dem die Sprachenfrage geregelt ist, heißt The Eighth Schedule to the Constitution of India (übersetzt in etwa "das achte Programm zur Verfassung Indiens"; ähnlich wie die Zusatzartikel, amendments in der Verfassung der USA).
Übrigens: Die nationale Regierung führt ihre Geschäfte auf Hindi und Englisch.
22 Sprachen (+ Englisch) klingt vielleicht nach viel, aber bei einer Volksbefragung im Jahr 2011 kam heraus, dass es in Indien ganze 122 Sprachen und Dialekte gibt, die mindestens eine Sprecherzahl von 10.000 Menschen haben und noch 30 weitere Idiome, die von mindestens 1 Mio. Menschen gesprochen werden!
Und kein Wunder, denn Indien ist nicht nur ein riesiges Land (fast so groß wie die gesamte EU), sondern blickt auch auf eine lange und reichhaltige Geschichte zurück. Und wie das immer so ist, haben die verschiedenen kulturellen Einflüsse auch ihre Spuren in den Sprachen und Dialekten Indiens hinterlassen.
Die wichtigsten Faktoren waren dabei drei Reiche, unter deren Herrschaft Indien jeweils lange Zeit stand: das hinduistische Maratha-Reich, das muslimische Mogulreich und Britisch-Indien, die britische Kolonialzeit in Indien.
Wenn es darum geht, welche Sprachen die indischen Sprachen am stärksten von außen beeinflusst haben, sind sicherlich Persisch und Englisch zu nennen, wobei auch Arabisch – gerade während der muslimischen Herrschaft – eine Rolle spielte.
“Viele Menschen im Westen sind erstaunt über Indiens sprachliche Vielfalt. Es gibt dort fast 30 verschiedene Sprachen mit jeweils mindestens 1 Mio. Muttersprachlern. Es gibt mehr Tamil-Muttersprachler auf der Welt als Italienisch-Muttersprachler. Genauso sprechen mehr Menschen Panjabi als Deutsch, mehr Marathi als Französisch und mehr Bengali als Russisch. Die Zahl der Telugu-Sprecher ist höher als diejenige der Sprecher von Tschechisch, Niederländisch, Dänisch, Finnisch, Griechisch, Slowakisch und Schwedisch zusammen!" – Bob Harris
Wusstest Du, dass Englisch und Hindi zu den offiziellen Sprachen der indischen Regierung gehören? Welche Rolle das Englische in Indien spielt, erfährst Du hier!
Die Ursprünge und Geschichte von Urdu
Gleich mal vorweg: Die Ursprünge von Hindi und Urdu sind dieselben.
Während des Mittelalters wurden auf dem indischen Subkontinent zahlreiche indigene Sprachen gesprochen. Die meisten davon gehörten zu der Prakrit-Sprachfamilie (das ist der Teil der indoarischen Sprachen, der in der sprachgeschichtlichen Entwicklung auf das Altindische folgte). Mehr als 12 dieser Sprachen wurden im Alltag von der indischen Bevölkerung verwendet (je nach Region und Religion). Diese Sprachen existierten parallel zur wichtigsten Literatursprache aus der indoarischen Sprachgruppe: Sanskrit.

All diese Sprachen und Dialekte vermischten sich allmählich mit dem Persischen, als dieses seinen Weg auf den indischen Subkontinent fand. Dies war während der Zeit des muslimischen Tschagatai-Khanats (13.-16. Jh.). Das Reich wurde 1526 durch Babur gegründet. Um die Macht an sich zu reißen, mussten die Mogule zunächst die vielen Fürstenstaaten, aus denen Indien bis ins 16 Jahrhundert bestand, erobern (oder unterwerfen).
Am Hofe des Mogulreichs wurde eine indo-persische Kultur gelebt. Die Herrscherfamilie brachte viele kulturelle und sprachliche Aspekte aus Persien mit, nahm ihrerseits aber auch lokale indische Traditionen und Bräuche in ihr Leben auf. Die Sprache Hindustani (Vorläufer von u.a. Hindi und Urdu) keimte zu dieser Zeit auf.
Das Persische vermischte sich langsam mit mehreren Dialekten von Śaurasenī, die in Zentralindien gesprochen wurden, vor allem Braj Bhasha, Awadhi und dem Dialekt Delhis.
Der Gebrauch bei Hofe und die verschiedenen Einwanderungswellen aus dem Westen führten dazu, dass immer mehr persische und auch arabische Wörter Eingang in das lokale Khari Boli (was so viel heißt wie "bestehende Sprache") fanden.
Ein weiterer Einflussfaktor war die muslimische Armee des Mogulreichs, die sich um die wichtigsten Städte, einschließlich Delhi, aufhielt. Dort waren die meisten Soldaten damals im Roten Fort untergebracht, in dessen Nähe sich der Urdu Bazaar entwickelte. "Urdu" bedeutet übrigens so viel wie "Armee" oder "Lager". Daher kommt auch das deutsche Wort "Horde". Die Persisch sprechenden Soldaten und lokalen Geschäftsinhaber und Anwohner kamen in Kontakt – genauso wie ihre Sprachen.
Obwohl Persisch die offizielle Sprache am Hof und innerhalb der soziokulturellen Institutionen der damaligen Zeit war, war Arabisch weiterhin die offizielle Sprache des Islams auf dem indischen Subkontinent. Durch den Einfluss lokaler Sprachen und Dialekte auf die persische Lingua franca (durch Händler, Soldaten, Prediger und örtliche Gerichte) hatte sich bis zum 17. Jahrhundert eine frühe Form von Hindustani entwickelt.
Die Entstehung einer gemeinsamen Sprache
Hindustani wurde zur universellen Sprache der hinduistischen und muslimischen Bevölkerungsgruppen (auch wenn es nicht die offizielle Sprache war) und zeigt, wie sehr sich die beiden Zivilisationen in ihrer mehr als 300 Jahre andauernden Koexistenz beeinflusst haben. Als Hindustani im 18. Jahrhundert "persianisiert" und um 1800 "sanskritisiert" wurde, entwickelte es sich in zwei Sprachen weiter: Urdu und Hindi.
Doch bis 1837 blieb die Sprache die gemeinsame Vernakularsprache. In diesem Jahr ersetzte Hindustani in der persischen Schrift (also Urdu) Persisch als offizielle Sprache. Diese Entscheidung trafen die damaligen britischen Herrscher. Diese Veränderung führte zu einer Spaltung zwischen Hindus und Muslimen, vor allem im Norden Indiens, wo die hinduistische Mehrheit es lieber gesehen hätte, dass die Regierung und offiziellen Einrichtungen die Sprache im Devanagari-Alphabet verwenden (also Hindi).
Nach jahrelangem Lobbyieren und politischen Machtspielchen setzte sich 1949 Hindi (also das Devanagari-Skript) schließlich als offizielle Sprache der indischen Nation durch – also erst nach der britischen Kolonialherrschaft in Indien.

Hast Du gewusst, dass Telugu eine der 23 offiziellen Sprachen Indiens ist, die in der Verfassung Indiens als solche festgehalten sind.
Urdu vs. Hindi
Der Unterschied zwischen Urdu und Hindi (abgesehen von den bereits erwähnten unterschiedlichen Schriftsystemen) ist vorwiegen soziopolitisch. Hindi ist inzwischen traditionell die Sprache der hinduistischen Religionsgemeinschaft, während Urdu von der muslimischen Bevölkerung verwendet wird (natürlich gibt es immer Ausnahmen und nicht alle Menschen in Indien sind religiös, aber das ist die wichtigste grobe Aufteilung). Urdu wird aber nicht nur in den Bundesstaaten genutzt, in denen es offiziell anerkannt ist, sondern auch von muslimischen Communities, die mit Hindus in mehrheitlich hinduistisch geprägten Bundesstaaten friedlich zusammenleben.
Heutzutage gibt es bezüglich der Sprachen zwar immer noch Spannungen in einigen Gebieten Indiens, doch im Allgemeinen haben Hindi-Sprecher keine Probleme mit persischen oder arabischen Lehnwörtern, genauso wie Urdu-Sprecher auch Wörter aus dem Sanskrit verwenden. Auch wenn es in der Fachsprache und Literatur noch größere Unterschiede gibt, nähern sich die gesprochenen Formen von Hindi und Urdu immer mehr an.
Du hast Lust auf Hindi lernen? Gute Idee, denn wenn Du erstmal erfolgreich Hindi-Unterricht genommen hast, kannst Du automatisch auch Urdu – zumindest, was das Mündliche angeht!
Die Urdu-Varietäten in Indien
In Indien gibt es mehr als 50 Mio. Urdu-Muttersprachler. Damit liegt es bei den meistgesprochenen indischen Sprachen (exkl. Englisch) auf Rang 6 (nach Hindi, Bengalisch, Marathi, Telugu und die tamilische Sprache).
Im Zuge der Sprachwahl der verschiedenen Bundesstaaten (s.o.) wurde Urdu von folgenden Staaten als offizielle Amtssprache auf deren Gebiet anerkannt: Jammu und Kashmir, Telangana, Uttar Pradesh, Bihar, Jharkhand und Westbengalen. Jammu und Kashmir (wo zur Zeit leider wieder starke Unruhen herrschen) ist jedoch der einzige Bundesstaat, der Urdu als einzige Amtssprache gewählt hat. By the way: In einigen Regionen, in denen man Urdu spricht, spielt auch Bengalisch eine wichtige Rolle.
Es gibt drei dialektale Hauptformen von Urdu, die einen offiziellen Status genießen:
- Dakhni: eine Sprache, die sich im 14. Jahrhundert während der Herrschaft des Dekkan-Sultanats herausbildete. Sie entwickelte sich ein wenig vom ursprünglichen Urdu weg, indem sie stark von den anderen indischen Sprachen Marathi, Telugu und Kannada beeinflusst wurde. Aufgrund dieses bunten Mixes wird sie oft als familiäre Form von Hindi-Urdu angesehen und wird auch als "Sprache der Straße" in vielen indischen Großstädten (z.B. Hyderabad und Bangalore) gesprochen.
- Rekhta: eine frühe Form von Hindi und Urdu (Hindustani); wird heutzutage vor allem noch in der Urdu-Dichtung verwendet.
- Modern Vernacular Urdu: die informelle, gesprochene Form von Urdu, die von allen Urdu-Muttersprachlern beherrscht und von den meisten Hindi-Sprechern verstanden wird. Nicht zu verwechseln mit der offiziellen Schriftsprache Modern Standard Urdu (was z.B auch die Nationalsprache Pakistans ist)
Urdu außerhalb Indiens

Wir haben es gerade schon angedeutet: Urdu ist auch die Nationalsprache Pakistans. Sie wurde dort zur offiziellen Sprache, als das Land 1947 von Britisch-Indien unabhängig wurde. Nur 8% der Pakistanis haben allerdings Urdu als Muttersprache, doch eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung spricht es als Zweitsprache (und es dient als Lingua franca).
Urdu wird außerdem in manchen Teilen Nepals gesprochen und wird auch in Bangladesch und Teilen des Nahen Ostens verstanden.
Es wird geschätzt, dass es weltweit mehr als 700 Mio. Hindustani-Sprecher gibt (also Sprecher von Hindi und Urdu zusammengezählt). Damit liegt es auf Platz 3 der am meisten gesprochenen Sprachen der Welt (nach Englisch und Mandarin).
Das Urdu-Alphabet
Wie bereits erwähnt, gehören Urdu und Hindi zur gleichen übergeordneten Sprache: Hindustani. Im Mündlichen können sich Urdu- und Hindi-Sprecher problemlos miteinander unterhalten, doch wenn sie stattdessen einen Brief oder eine E-Mail schreiben müssen, wird es schon schwieriger.
Kurz zur Erinnerung: Hindi verwendet das Devanagari-Alphabet (das aus der Brahmi-Schrift stammt), während Urdu ein persianisiertes System verwendet, das – surprise – auf das persische Alphabet zurückgeht (aus dem Westen von den Mogulherrschern ins Land gebracht).
Das Urdu-Alphabet wird in der Regel in der kalligraphischen Schrift Nastaʿlīq von rechts nach links geschrieben (wie das Arabische) und umfasst 58 Buchstaben. Es wird dabei nicht zwischen Klein- und Großbuchstaben unterschieden.
Das Urdu-Alphabet ist eine Konsonantenschrift, hat also nur Konsonanten und lange Vokale (letztere muss der Leser selbst ergänzen – auch wie im Arabischen). Von den 58 Zeichen sind 38 Grundzeichen und die restlichen sind Digraphen, die eine Aspiration des Konsonanten darstellen.
Die Urdu-Schrift hat also keine Vokale (zumindest nicht explizit), aber das gesprochene Urdu verfügt natürlich durchaus über Vokallaute. Für Deutsch-Muttersprachler (oder andere Sprecher germanischer oder auch romanischer Sprachen) mag es zunächst komisch erscheinen, aber Vokale können in der Urdu-Schrift nur implizit über Konsonanten dargestellt werden.
Von der Aussprache her gibt es in Urdu zehn nasale Vokale (ähnlich wie im Französischen -in, -en, -on, -an, aber eben noch mehr!), die je nach Position auf vier verschiedene Arten geschrieben werden können (also alleinstehend, am Anfang, in der Mitte oder am Ende).

Übrigens: Bis Ende der 1980er-Jahre arbeiteten Urdu-Zeitungen mit professionellen Kalligraphen, um handgeschriebenes Urdu dann als Tageszeitungen zu vervielfältigen.
“Laut Sprachwissenschaftlern ist die Sprache Hindustani in zwei geteilt: Hindi und Urdu. Doch manche sind der Meinung, dass sie aus politischen und kulturellen – nicht sprachlichen – Gründen als zwei verschiedene Sprachen angesehen werden sollten. Abgesehen von nichtigen grammatikalischen Abweichungen sind es das Vokabular und das Schriftsystem, die den größten Unterschied zwischen den beiden ausmachen. Die formellste Version von Hindi, machmal auch “Hoch-Hindi” genannt, verwendet ein Vokabular voller Sanskrit-Wörter, während die entsprechende Version von Urdu, "Hoch-Urdu", viele iranische [persische] und arabische Entlehnungen verwendet. Auf dieser Ebene sind die Sprachen untereinander kaum verständlich. Weniger formelle Varietäten von Hindi und Urdu dagegen sind fast vollständig gegenseitig verständlich.” – Christopher King, Auszug aus “One Language, Two Scripts”, 1994 veröffentlicht.
Na, bist Du neugierig geworden? Dann stürz Dich jetzt ins Abenteuer Indien und setz Dich mit dem Thema Hindi und Urdu lernen auseinander! Du wirst dabei eine Menge lernen und hast quasi ein 2-für-1-Paket! :)
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